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1945 davor/danach / CD / 2024

Aus der Krisenwahrnehmung unserer Gegenwart strecken sich uns beredte Jahreszahlen deutscher Geschichte entgegen: 1923, 1933, 1943, 1953. Wir verstehen diese Spanne, die fast ein halbes Menschenleben umfasst, als einen historischen Block immenser Schreckenserfahrung – verbunden mit starker Verunsicherung und wiederholter Auflösung gültiger Normen und Werte. Eine unserer Thesen lautet: Eine bislang wenig beachtete, vielleicht gar ihre wichtigste Bewältigungsform sei die verzweifelte Suche nach Normalität. Im Namen ihrer „Re-Integration in die Normalität“ – so die US-amerikanische Historikerin Monica Black – blendete der Großteil der deutschen Bevölkerung das in jenen Jahrzehnten Durchlebte aus, verschwieg und verdrängte die in Krieg und nationalsozialistischer Herrschaft getätigten Erfahrungen, statt sie aufzuarbeiten und nicht der Folgegeneration zu übertragen.

Mitten im Schrecken, mit dem man sich arrangierte, an dem man sich beteiligte und den man stützte, wuchs – wie der Analytiker Alexander Mitscherlich sagt – gesellschaftsweit die „Orientierung am Unwirklichen“. Gemeint ist damit die Bereitschaft, irrationalen Erklärungsmustern zu folgen, die Jahrzehnte später befremden, gleichwohl aber fortleben. Die Wirklichkeit wird dabei vereinfacht, schwarz-weiß gefärbt, polarisiert. Konflikte erscheinen unlösbar durch eigenes Tun, man selbst ist ein Opfer und wollte doch nur sein ganz kleines Glück. All das wirkt lange nach – bis hinein in scheinbar harmlose Schlager, deren Texte und Melodien bis heute immer noch sehr viele kennen, um deren Ursprungszusammenhänge heute aber kaum einer weiß. These zwei wäre also: Unterhaltungsmusik war der jeweiligen Realität näher, als wir es vermuten. Unterhaltung suggeriert Normalität; sie nimmt das Schreckliche wahr, färbt es aber erträglich.

Dezidiert war Unterhaltung eine der Hauptfunktionen der neuen Medien der Zeit, sie vermittelte sich vor wie nach 1945 über Radio und Tonfilm. Insbesondere Schlager vermochten zu trösten und zu verdrängen, zuzuspitzen und zu verharmlosen. Ihre Massenwirkung hat die NS-Zeit zur Güte erprobt. Medial verbreiteter Ton und Bewegtbild interferierten optimal mit Sehnsüchten und Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten; sie brachten Ablenkungen, sie bemühten Versprechungen des Wunders und Wunderbaren. Im oft beschworenen „Wunder der Liebe“, in den „Wunderwaffen des Führers“ und noch im „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre ist dieser Topos präsent.

Wir kennen heute derlei zumeist als Revivals aus späterer Zeit. Statt Zarah Leander sang zu uns Hildegard Knef, sangen Nina Hagen und Georgette Dee. Sie singen durchaus alle ähnlich – betörend, verführend, verharmlosend –, doch keine so wie die Nazi-Ikone. Eine dritte These lautet deshalb, man müsse die Texte und Melodien von einst heute einmal ganz anders hören, gänzlich anders aufführen, um auf ihre verborgene Wahrheit zu kommen. Auf das Unerledigte, Unabgegoltene. Was auch für Gesänge der Nachkriegszeit gilt, die vergleichsweise mager und unsinnlich wirken.

Ein solches „ganz anders“ war der Ausgangspunkt für das Projekt, das auf dieser Scheibe erklingt. Die Arbeit von Oliver Augst und Marcel erinnert durchaus an ein philosophisches Verfahren wie die „Dekonstruktion“ im Sinne von Derrida. Liedgut einer bestimmten Epoche oder politisch-ästhetischen Sphäre wird dabei auf verborgene oder verschüttete Kernaussagen hin untersucht und erhält eine neue Gestalt. In unserem Falle geht es um Lieder und Schlager der 1930er bis 1950er Jahre und um ihre Schöpfer.

Extreme treffen auf der CD aufeinander: Ich meine einerseits Titel, Rezeptionsgeschichten und heutige Arrangements – andererseits aber die Lebenswege der einstigen Urheber der Originale, die im Untergrund mitlaufen, die angeklickt sind, wenn wir sie heute neu hören. So findet sich hier der Wiener Jude Hanns Eisler, Emigrant, Kommunist und Opfer der DDR-Kulturpolitik, der auf den SS-Anwärter Hans Baumann stößt, der HJ-Lieder schrieb und nach Kriegsende als Kinder- und Jugendliedautor fortfuhr. Zugegen ist auch Kurt Schwaen, anfangs Widerstandskämpfer und Zuchthausinsasse, später Initiator des ostdeutschen Kindermusiktheaters. Ebenso der NSDAP-Mann Franz Grothe, bekannt als Dirigent der Fernsehunterhaltungsserie „Zum Blauen Bock“. Und Theo Mackeben, der 1928 die „Dreigroschenoper“ dirigierte und 1944 auf Hitlers „Gottbegnadetenliste“ erschien, trifft auf Czes?aw Niemen, den nationalistisch gestimmten polnischen Elektroniker den 1970er Jahre.

Augst & Daemgen haben ein vielschichtiges Konvolut an Liedern gesammelt und in der Tat neu interpretiert. Man könnte ihr Album als Songbook der Deutschen im 20. Jahrhundert bezeichnen, schließlich reichen die Titel vom Ende der legendären Zwanzigerjahre bis in die deutsche Zweistaatlichkeit nach dem Krieg. Anklage oder Belehrung liegen den Bearbeitern fern. Vielmehr geben sie dem Scheitern und dem Verlassensein Raum, das sich in vielen Stücken vermittelt – in enttäuschten Hoffnungen und Illusionen. In jedem Fall wollen sie nicht zum Mitsingen einladen, sondern zum noch-einmal-neu-Hören. Manche Titel wurden dafür arg reduziert und heftig verfremdet, in manchen wurde ergänzt, was an Wirklichkeit darin fehlte. „1945 before/after“ ist unsere siebente Zusammenarbeit: Oliver Augst und Marcel Daemgen und der Deutschlandfunk haben über fast 25 Jahre verteilt sieben Platten gemacht – diese Neueste scheint mir (wie immer) die Brisanteste geworden zu sein.

Frank Kämpfer

 

Titel
Booklettext (Frank Kämpfer)
Booklettext (ins Englische von Michael Turnbull)
Wie harmlos sind Schlager? (Hanno Ehrler)
How Innocuous Is Schlager? (ins Englische von Michael Turnbull)
Foto







 

 

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